Wann platzt die Blase?
Spiegeltag, Matuschek sitz das erstemal seit sechs, sieben Jahren
an einem Montag, der nicht der Rosenmontag ist, in seinem Auto. Es ist weit
nach Mitternacht, auf diesem zentralen, aber um diese Zeit menschenleeren
Halteplatz wartet er nicht nur auf eine neue Fahrt, sondern auch auf Silvio,
dem er am Samstag zwei Zwanziger für ein Handy gegeben hat, das wollte
er dann sofort holen. Um es vorwegzunehmen, Silvio kommt nicht, seinen Personalausweis
wird Matuschek wohl noch einige Zeit behalten.
Es kommt auch sonst Niemand, und die neue Aushilfsfunkerin übt
leider nur alle fünf Minuten eine Fahrt einigermaßen korrekt rauszugeben,
bei über sechzig Halteplätzen kann Matuschek dann, nach den Regeln
der Wahrscheinlichkeitsrechnung, bis zu fünf Stunden warten.
Zeit zum Nachdenken, über die Millionengehälter der Manager,
die Börsenmilliarden der Informationsgesellschaft Gurus, deren Biographie
jetzt auch die Hamburger lang und breit beleuchten, die Helden des Cyberspace,
Gates, Jobs, Case, Dell, Yang, Barrett. Gerade bei Yang "Yahoo", Börsenwert
höher als TEXACO, stellt sich die Frage, was sind "Werte", gar nicht
mal philosophisch, ganz rational, was wird hier von den Spekulanten bewertet?
Zukunft, Information, Wissen, ich habe nichts gegen Yahoo, aber ein paar
Server, ein bißchen Software, 50 Millionen nicht zahlender Kunden pro
Monat, die sich alle Fischsaucen der Welt in allen relevanten "Seiten" raussuchen
lassen, sind das milliardenschwere Werte.
Unternehmenszusammenschlüsse die die Managergehälter
in exorbitante Höhen schnellen lassen, die Gewinne steigen, die Steuern
müssen weiter runter, die paar Arbeitnehmer, die man noch braucht, kann
man auch noch ein bißchen pressen - survival of the fitest -.
Matuschek hat in den letzten zwei Stunden viel gelesen, viel gedacht,
nix verdient, den Kräften des freien Marktes gnadenlos ausgeliefert,
wirken die Berichte über umsatzschwache, verlusteinfahrende Unternehmen,
die durch den Börsengang wieder ein paar Aktienmillionäre schaffen,
doch recht surreal.
Er muß an den Privatmann "Oskar" denken, einer der letzten
Sozialisten, der jetzt keine Lust mehr hat, oder die EU Kommissare, die jetzt
auch zu Hause bleiben müssen. Das Leiden wird auch durch die zehn bis
zwanzigtausend Euro im Monat, als Übergangsgeld oder wahlweise als Pension
nur etwas gemildert.
Ja Chef, denkt Matuschek, ich steig jetzt aus, ich bin jetzt Privatmann,
das Übergangsgeld schick mir nach Hammerfest.
Irgendwie komisch, dass die meisten mit denen Matuschek spricht,
nicht nur Arbeiter (die noch am wenigsten) auch Angestellte, Freiberufler,
Selbständige, alle sagen, da läuft einiges schief, das quasi Naturgesetz
"Shareholder Value" oder die "Globalisierung" dienen phrasierenden Politikern
oder nachschwätzenden Meinungsmachern gern als Erklärung, obwohl
nicht erklärt wird, warum die Gewinne, auch nach Steuern, immer im Milliardenbereich
liegen müssen, wenn sie dann doch nur für Spekulationen an der aufgeblähten
Börse benutzt werden. Obwohl Matuschek nicht an die große "Weltverschwörung"
glaubt, kann der Kreis der Profiteure nicht so groß sein.
Drei Stunden sitzt Matuschek schon hier, jetzt fährt er mit
seinem Auto in die Nacht und stellt sich, auch ganz physisch, die Frage:
"Wann platzt die Blase?"
© 1999 by ulrich prietz
3 Schürzen
November, Samstagnacht, die Temperaturen sind mild, das Geschäft
boomt. Die erste Fahrt machte Matuschek mit einem jungen Mann Ende zwanzig,
kurz vor dem Ziel klingelte sein Handy.
"Ja, ist etwas später geworden, noch eine Ecke im Taxi, dann
komme ich.", sagte der Mann ins Handy, dann zu Matuschek,
"Meine Frau, musste heute ein paar Überstunden machen, wir
proben gerade ein neues Stück."
Die zweite Fahrt machte Matuschek mit einem jungen Mann Anfang
dreißig, kurz vor dem Ziel klingelte sein Handy.
"Ja, bin spät dran, sitze im Taxi, noch eine Häuserecke.",
sagte der Mann ins Handy, dann zu Matuschek,
"Meine Freundin, wir hatten heute viel zu tun, da ist es ein paar
Stunden später geworden."
Die dritte Fahrt machte Matuschek mit einer jungen Frau, die Trennung
von ihrem Freund am Halteplatz dauerte bestimmt fünf Minuten, sie fuhr
nach Oberhausen, kurz vor dem Ziel klingelte ihr Handy.
"Ja bitte, ja ja ich komme gleich, ja, noch zwei Minuten.", hauchte
die junge Frau ins Handy, zu Matuschek,
"Ähm, mein Mann, ist heute etwas später geworden."
"Gut das es Handys gibt.", sagte Matuschek und dachte, aller guten
Dinge sind drei, dass es auch negative Triaden geben kann sollte Matuschek
noch diese Nacht erfahren.
Erstmal fuhr er über die A 40, den Ruhrgebietshighway zurück,
ein zufälliger Blick auf die Tankanzeige führte ihn zur Tankstelle
am Hauptbahnhof, dort gibt es einen Taxi Rabatt, den Matuschek, wenn er schon
tanken muß, immer einstreicht. Als er mit vollem Tank wieder losfuhr,
sah er ca. dreißig Menschen am Taxi Halteplatz warten, wie immer fuhr
er bei solchen Gelegenheiten ganz nach vorn, alle ihm entgegenlaufenden, pfeifenden,
aggressiv rufenden Gäste ignorierend. Vorne standen drei Frauen, gut
fünfzig Jahre alt, in Schürzen, wirklich, und jede mit einer Plastiktüte
und einem Einkaufsbeutel aus Kunstleder versehen.
"Guten Morgen, wir wollen zum Sugamberweg."
Es war 0:10 Uhr, einige Fahrgäste sagten dann "Guten Morgen",
hatte Matuschek noch nie verstanden, den Sugamberweg kannte Matuschek natürlich
nicht.
"Guten Abend, wie soll ich den da am Besten fahren?"
Die drei hatten sich endlich im Wagen eingerichtet, tuschelten
jetzt ganz aufgeregt und sagten dann zu Matuschek, recht verlegen,
"Bitte den kürzesten Weg, sie sind der Taxifahrer."
Shit, das er der Taxifahrer war, wusste Matuschek auch.
"Kenne ich nicht, den Sugamberweg."
"Bedingrade"
Dieser Vorort liegt im äußersten Nordwesten, Matuschek
kennt hier auf Anhieb keine einzige Straße mit Namen, meistens fährt
man aber erstmal die Hauptausfallstraße in diese Richtung, die Bottroper
Straße, gut acht Kilometer lang und fragt dann noch einmal nach.
"Über die Bottroper?"
Schweigen
"Soll ich dann erstmal über die Bottroper Straße fahren?"
Immer schön im ganzen Satz sprechen.
"Äh, wo ist die denn?"
"Am Autokino vorbei."
Zum Glück hatte eine der drei schonmal von ihrer Enkelin gehört,
dass es in Essen ein Autokino gibt und nach längerer Absprache konnte
es dann erstmal losgehen. Matuschek überlegte wo die drei wohl herkamen,
er hörte etwas von Busfahrt und Werbefahrt aus dem Fond. Aha, ein Tag
Eurohof mit Mittagessen, Kamera, Weinflasche, ein Pfund Schinken, drei Brote
und einer Verkaufsveranstaltung für DM 9,99. Das kann man auch im November
schonmal in der Schürze mitnehmen, dachte Matuschek. Zu seinem absoluten
Erstaunen hörte er jetzt aber aus dem Gespräch der drei heraus,
das sie vom Gardasee kamen, eine Woche Vollpension mit Verkaufsprogramm für
DM 99,99 incl. Busfahrt, aber ganz schlechter Service, ganz schlechtes Essen,
die Getränke mussten sogar selbst bezahlt werden, das Zimmer, ganz schlecht,
letztes Jahr die Woche Spanien für DM 88,88 war da viel besser gewesen.
Matuschek überlegte ob man eine Woche Gardasee mit einer Schürze,
einer Plastiktüte und einer Kunstleder Einkaufstasche machen konnte,
übers Ohr haben die sich aber bestimmt nicht bei der Verkaufsveranstaltung
hauen lassen. Muss ein hartes Geschäft sein, Reiseverkaufsveranstaltungen.
Sie bogen in eine kleine Sackgasse mit drei Häusern ein, der
Sugamberweg, die drei stiegen aus, bezahlten anstandslos die DM 40,60 immerhin
fast drei Tage Gardasee, das Geld natürlich abgezählt, aus der
Plastiktüte.
Matuschek fuhr weiter in die Samstagnacht hinein, solche Fahrgäste
hatte er noch nie gehabt, zwei schimpfende ältere Frauen hatte er mal
an einem Sonntagmorgen um 1:30 Uhr am Busbahnhof aufgelesen, die wollten auch
zum Gardasee mit dem Bus und regten sich furchtbar über das Reiseunternehmen
auf, das keinen Bus geschickt hatte, die Taxikosten würden sie sich
aber wiederholen und verklagen würden sie den und ... Als sie Matuschek
den Fahrscheck, auch irgendeine Reiseverkaufsveranstaltung zeigten und Matuschek
sagte das dort Samstag 0:45 Uhr Abfahrt steht, schrien sie erst:
"Genau"
Matuschek wagte einzuwenden:
"Heute ist aber Sonntag"
So schnell gaben sie nicht auf:
"Samstag Abend 0:45 Uhr, das ist doch jetzt."
"Eigentlich nicht"
Matuschek sagte dies sehr versöhnlich, die Fahrt verlief dann
auch sehr ruhig.
Ein Fußgängerüberweg und eine männliche Person
die nicht ganz eindeutige Zeichen gab, veranlassten Matuschek zum Halten.
Matuschek hoffte noch die männliche Person würde jetzt den Fußgängerüberweg
auch benutzen, da krabbelte diese aber auch schon herein.
"Einmal nach Hause"
"Ja"
"Dooooonneeeeeerstraasssse"
"Ne, heute gibt es kein Gewitter mehr."
"Dooooonneeeeeerstraasssse"
"Gehe ich recht in der Annahme, dass sie in die Donnerstraße
gebracht werden möchten?"
Immer höflich ist Matuscheks Devise.
"Halt's Maul"
"So wird das nichts."
"Dooooonneeeeeerstraasssse"
"Na gut"
Nach zweihundert Metern signalisierte die männliche Person
Matuschek das dieser doch mal anhalten möchte, stieß die Tür
auf und übergab sich auf das Trottoir.
Zwei Stunden später fuhr Matuschek die Meisenburgstraße
hinab ins Ruhrtal, äußerst konzentriert, da ein Starkregen eingesetzt
hatte, das Gelabber des Eishockeyfans auf dem Beifahrersitz ignorierend.
Die Hand die von hinten rechts auf seine Schulter klopfte und zu einem weiteren
Eishockeyfan gehörte musste er aber wahrnehmen, er drehte sich wütend
um. Der Eishockeyfan zeigte auf seinen Kollegen, der hinter Matuschek saß
und grummelte:
"Halt doch mal an!"
Matuschek sah was los war, hielt an, schaltete die Warnblinkanlage
ein, der dritte Eishockeyfan stieß die Tür auf und übergab
sich auf die Straße.
Gerade zurück in der Stadt, mal schnell einen Kaffee gezogen,
Kippchen gedreht und weiter, standen drei junge Männer am Straßenrand
vor einer Gaststätte, leicht bekleidet für November und hielten
Matuschek an. Einer öffnete die Beifahrertür:
"Was kostet das nach Kettwig?"
"Um die DM vierzig"
"Hast du soviel?"
"Klar", sagte der im weißen T-Shirt und wurde ins Taxi gesetzt.
"Bringen sie den mal nach Kettwig."
Matuschek wendete und fuhr die Rüttenscheider Straße
Richtung Süden, der Fahrgast wahr verdächtig ruhig, Matuschek schaltete
die Innenbeleuchtung ein und sah sich den Burschen mal an, da hörte er
auch schon ein verdächtiges Würgegeräusch, klar dachte Matuschek,
drei Jahre nicht passiert und heute dann dreimal pariert. Der junge Mann
war aber noch unerfahren, also schaltete Matuschek die Warnblinkanlage an,
stoppte das Taxi und sagte dem jungen Mann, dass er jetzt mal die Beifahrertür
aufmachen solle und sich übergeben, das tat er dann auch. Trotz der von
Matuschek mehrfach wiederholten Frage ob es denn jetzt gehe und der Antwort,
"Na klar", wiederholten sie das ganze mehrmals. Matuschek hatte schon kurzfristig
überlegt ob er seinen Fahrgast nicht einfach an der Alfred Wache abgeben
sollte, brachte ihn dann aber doch nach Hause, insgesamt kamen sie locker
auf sieben Stopps, das Geld bekam Matuschek dann von der Mami, der er den
Jungen übergab.
Da es in dieser Nacht auch lukrative Fahrten die völlig normal
verliefen zu Hauf gab, machte sich Matuschek am frühen Sonntagmorgen
auf den Heimweg. Insgesamt zufrieden schaute er beim Vorbeifahren nochmal
rauf zum Nordhof, dem Halteplatz vor dem örtlichen Bordell, leer, da
konnte Matuschek nicht vorbeifahren.
"Morgen, einmal zum Sugamberweg."
Ein kleiner Mann war eingestiegen, Matuschek fuhr los.
"Kennen sie den Sugamberweg?"
"Klar"
"Das ist aber ungewöhnlich, der Sugamberweg ist eine ganz
kleine Sackgasse."
Matuschek und sein Fahrgast fuhren zufrieden rauchend in die Morgendämmerung,
da begann sein Fahrgast zu erzählen,
"Ach, eine Woche hatte ich jetzt Ruhe, meine Frau war mit ihren
beiden Freundinnen am Gardasee, war ganz schön, mal allein zu sein, heute
morgen um 10:00 Uhr kommen sie zurück. Sie können ja gleich mal
zum Busbahnhof, gegenüber dem Hauptbahnhof, fahren, ist doch eine gute
Fahrt zum Sugamberweg, sie kennen sich ja aus."
"Nein danke, ich mach jetzt Feierabend", sagte Matuschek und dachte,
"du wirst dich noch wundern heute morgen."
© 2000 by ulrich prietz